Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Kundenmagazin nah klar.
In eigener Regie
Ann-Marié Groß steht hinter einer Scheibe am Bahnhof Köthen und lächelt. Vor ihr steht ein älterer Reisender. Der Mann mit den grauen Haaren ist aufgebracht. Er will zum Flughafen nach Leipzig, aber sein Intercity hat Verspätung. Sie ist noch im ersten Lehrjahr, aber die Ruhe selbst. Mit ihrem breiten Lächeln und der klaren Aussage, dass der Fahrgast seinen Flug sicher erwischen wird, bringt die 22-Jährige die Situation unter Kontrolle. Gelernt ist gelernt.
Die junge Frau aus Tangerhütte hat nach ihrem Realschulabschluss schon eine Ausbildung bei DB Services begonnen, musste dann aber aus gesundheitlichen Gründen wechseln. Einen Teil ihrer Ausbildung zur Kauffrau für Verkehrsservice absolviert sie nun am Juniorbahnhof Köthen. Das Projekt hat die Deutsche Bahn im Dezember eigens aufs Gleis gesetzt, um Auszubildenden des ersten bis dritten Lehrjahres eine neuartige Chance zu bieten: Sie dürfen den Informationsschalter in eigener Regie verantworten.
Wann immer es ihre theoretische Ausbildung erlaubt, beantworten sie jetzt zwischen 7.00 und 15.40 Uhr in Köthen die Fragen der Reisenden zu Fahrplänen, Anschlüssen, Bahnsteigen und Schienenersatzverkehr oder stellen Verspätungsbescheinigungen aus. Darüber hinaus geben sie Tipps zum Bummeln in Köthen, das mit seinem Schloss, den Bach-Stätten und bedeutenden Kirchen auch internationale Gäste anlockt. Dafür haben die Auszubildenden zuvor eigens eine Stadtführung mitgemacht. Die Fahrkarten verkauft weiterhin das DB-Reisezentrum, das schräg gegenüber des Infoschalters lieg
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Die Deutsche Bahn setzt zudem einen „Bewerberzug“ ein. Die nächsten Stopps sind im September geplant.
Viel Mitsprache
Wenn Intercitys halten, gehen die jungen Leute mit auf den Bahnsteig, um Betreuung anzubieten. Die Auszubildenden gestalten auch die Öffnungszeiten und Dienstpläne mit, führen das Dienstbuch und arbeiten mit anderen Fachabteilungen direkt zusammen, erzählt der Leiter des Bahnhofsservices, Sandy Schütz. Auch bei der Einrichtung der jahrelang leerstehenden Räume war ihre Mitsprache gefragt. Der Schalter in der Personenunterführung sowie neue Arbeits- und Pausenräume neben dem Bahnsteig wurden dafür seit vorigem Frühjahr eigens hergerichtet. Mehr als 100.000 Euro hat sich das Unternehmen den Aufbau des Juniorbahnhofs kosten lassen.
„Wir legen Verantwortung bewusst frühzeitig in die Hände junger Azubis“, sagt Danny Derbe, der Leiter Bahnhofsmanagement der DB InfraGO in Magdeburg. Angesichts des demografischen Wandels werde es immer wichtiger, den Generationswechsel der Belegschaft gut zu organisieren. Derbe hat die Weichen für die Einrichtung des Juniorbahnhofs gestellt, um an kleineren Bahnhöfen in Sachsen-Anhalt wieder mehr persönlichen Service aus erster Hand anzubieten und junge Leute dabei einzubinden. Köthen sei einerseits ein wichtiger Kreuzungspunkt im Nah- und Fernverkehr mit etwa 3.000 Reisenden am Tag und habe auch touristisch einiges zu bieten, sagt Derbe. Der Bahnhof sei aber andererseits nicht zu groß und zu stark frequentiert um die Berufseinsteiger zu überfordern. „Hier haben sie mehr Zeit zum Lernen“, so Derbe.
Ansprechstation auf dem Weg zum Bahnsteig: Der Informationsschalter ist für die Reisenden immer geöffnet, wenn es die Dienstpläne der Azubis zulassen.
Täglich 30 bis 40 Fragen – Tendenz steigend
Die Auszubildenden könnten ihr theoretisches Wissen aus der Berufsschule und den DB-Trainings in der Praxis gut anwenden und Selbstvertrauen im Umgang mit Reisenden gewinnen, betont Bea Zeidler, Azubifachkoordinatorin im Regionalbereich Südost der DB InfraGO. „Uns ist es wichtig, den Nachwuchskräften Vertrauen entgegenzubringen – und das erwarten sie auch.“ In der Bahnregion Südost gibt es zurzeit 35 Auszubildende, die Kaufleute für Verkehrsservice werden wollen. Im September sollen 13 neue Bewerberinnen und Bewerber eingestellt werden.
Die Idee der Azubi-Bahnhöfe hatte die Bahn schon einmal in den 90er Jahren angestoßen, nun lässt sie sie wieder aufleben. Und der Plan scheint aufzugehen. Schon wenige Wochen nach dem Start werden jeden Tag 30 bis 40 Fragen beantwortet – Tendenz steigend. „Gerade ältere Kunden sind froh und bedanken sich dafür, dass es den Service in Köthen wieder gibt“, erzählt Ann-Marié Groß. „Außerdem wirkt der Bahnhof belebter und strahlt mehr Sicherheit aus."
In guten Händen
Betreut werden die Azubis von erfahrenen Fachkräften, wie Sylvia Wagner, die die Bahn aus dem Effeff kennen. Die 55-Jährige ist für die Reisenden zunächst kaum sichtbar, sie sitzt bewusst etwas abseits des Informationsschalters. „Ich bin die Souffleuse im Hintergrund, die nur im Bedarfsfall mit ein paar Stichworten aushilft“, sagt Wagner. Die gelernte Facharbeiterin für Eisenbahntransporttechnik aus Dessau hat sichtlich Spaß am Prinzip Juniorbahnhof: „Ich mag es, jungen Leuten etwas zu erklären“, sagt sie. „Und wir lernen beide voneinander.“ An anderen Bahnhöfen stünden die Fachkräfte für den Kundenservice in der ersten Reihe und die Azubis schauten ihnen lediglich über die Schulter. In Köthen sei es genau andersherum: Die Azubis stehen in der ersten Reihe.
Ann-Marié Groß sind die Mitsprache und Freiheit wichtig.
Sie hat sich für die Bahn als Arbeitgeberin entschieden, weil sie hofft, sich dort in Zukunft weiterentwickeln und Karriere machen zu können. „Vielleicht kann ich
irgendwann selbst Nachwuchs ausbilden“, sagt sie. Bisher teilen sich vier junge Leute, die in der Region Magdeburg zu Kaufleuten für Verkehrsservice ausgebildet werden, die neuen Aufgaben. Doch im Laufe des Jahres soll das Modell weiter ausgerollt werden. Dann sollen auch Auszubildende etwa aus Halle und Leipzig sowie aus anderen Geschäftsbereichen wie Vertrieb, Sicherheit, Regio und Fernverkehr dazu stoßen, sagt Sandy Schütz.
Spätestens nächstes Jahr solle der Informationsschalter jeden Werktag besetzt sein. Auch der Mobilitätsservice für Menschen mit Beeinträchtigungen, allein reisende Eltern mit Kindern und Senioren könne dann ausgebaut werden. Und wenn das Projekt weiterhin gut laufe, sagt Schütz, könne es ein Erfolgsmodell für viele Bahnhöfe in Deutschland werden.
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