Mit unerschütterlichem Enthusiasmus und Wagemut halten Naumburger Bürger ihre Straßenbahn am Leben. Jetzt haben sie erstmals einen Auszubildenden eingestellt, der die historischen Bahnen genauso liebt wie sie. Eine kluge Vorsorge für die Zukunft.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Kundenmagazin nah klar.
Die Straßenbahner von Naumburg
Jonathan Babel strahlt und strahlt, und es scheint, als könne er gar nicht mehr aufhören damit. So einem freundlichen Gesicht begegnet man nicht alle Tage. Das liegt vielleicht auch daran, dass er liebt, was er tut. Der 19-Jährige mit Kinnbart und Pferdeschwanz hat im August eine Lehre bei der historischen Naumburger Straßenbahn begonnen. Er hat sich nicht einfach beworben. Er hat sie überredet, ihn auszubilden, als ihren allerersten Azubi seit Jahrzehnten. Nun steht er im blauen Hemd und dunkler Krawatte auf den Gleisen vor dem Bahndepot am Heinrich-von-Stephan-Platz. An seiner Brust prangt eine orange Krawattennadel mit der Linie 4 und ein Namensschild: Herr Babel. „Ich bin ein Pilotprojekt“, sagt Herr Babel lachend. „Ich bin der erste, aber bleibe hoffentlich nicht der einzige.“
Die „Wilde Zicke“ von Naumburg ist ein Liebhaberprojekt von Enthusiasten. 1892 gestartet, wollte die SED-Stadtführung ausgerechnet im Revolutionsjahr 1989 die heruntergefahrene Straßenbahn für immer ausrangieren. Technik und Anlagen waren zu marode geworden. Doch sie hatten die Rechnung ohne Andreas Plehn, Carsten Tranz und einige andere Unerschütterliche gemacht. Die jungen Leute setzten sich zur Wehr und retteten die Bahn. Auch wenn die Wagen ab 1991 zunächst im Depot bleiben mussten, fährt die Linie 4 seit 2007 wieder alle halbe Stunde zwischen Hauptbahnhof und Salztor in der Innenstadt hin und her. Mit ihren 2,8 Kilometern ist sie die kürzeste Straßenbahn Deutschlands. Die Oldtimerwagen aus den 50er, 60er und 70er Jahren zählen zu den dienstältesten der Republik. Das besondere Schmuckstück aber ist der in Eigenleistung wiederaufgebaute Triebwagen „TW 17“ aus Halle. Baujahr: 1928.
Mindestens 32 Fahrten leisten die Idealisten am Tag, 184 Kilometer hin und her. 800 bis 1000 Fahrgäste sind täglich an Bord, darunter viele Pendler und Touristen. Den Betrieb und Erhalt des verkehrstechnischen Unikums stemmen zehn Festangestellte und zahllose Ehrenamtliche. Sie stellen Fahrer und Schaffner, halten die Fahrzeuge instand, kontrollieren die Gleise, verkaufen Souvenirs und bieten charmante Sonderfahrten und Depot-Führungen an. „Ohne ihre Leidenschaft wäre der Betrieb gar nicht aufrechtzuerhalten“, sagt Andreas Plehn. Der 52-Jährige, der viele Jahre als Erzieher in einer kirchlichen Einrichtung für Menschen mit Behinderungen gearbeitet hat, ist seit 30 Jahren Geschäftsführer – lange Zeit ehrenamtlich, seit 2011 in Vollzeit.
Naumburger Halte-Stellen
Neun Haltestellen fährt die Naumburger Straßenbahn an, darunter Sehenswürdigkeiten und zentrale Plätze wie das Marientor, die Vogelwiese und das Salztor. Der kürzeste Fußweg zum Dom führt vom Jägerplatz durch die Altstadtgassen. Für einen Gastro-Stopp in der Innenstadt empfehlen sich Klassiker wie der Gasthof Zufriedenheit am Steinweg 26 und die Weinbar Friedrich in Herrenstraße 3 sowie der Ratskeller und das Braugasthaus am Markt.
"Man ist wie in einer Familie, aber hier steht die Straßenbahn im Mittelpunkt"
Seit August dieses Jahres gehört auch Jonathan Babel zum Team. Der einstige Praktikant wird an der Bildungsakademie Leuna zum Mechatroniker ausgebildet und absolviert die Praxisteile wann immer es geht in Naumburg. Selbst an freien Tagen und Wochenenden schaut er vorbei und kümmert sich mit um den Erhalt der Bahn, auch wenn die Kollegen manchmal lächelnd den Kopf schütteln. Wenn er 21 wird, darf er endlich auch die Straßenbahn-Fahrerlaubnis machen. „Man ist wie in einer Familie – aber hier steht die Straßenbahn im Mittelpunkt“, sagt der junge Mann, der selbst sechs Geschwister hat.
Vor drei Jahren stand er einfach in der Tür. Er war Abiturient am Domgymnasium gleich nebenan und wollte ein Schulpraktikum machen. Beim Vorstellungsgespräch verstand er sich bestens mit Andreas Plehn. „Der Funke ist gleich übergesprungen“, erzählt Jonathan Babel. Von da an kam er immer öfter und verliebte sich in die alte Technik: „Sie ist einfach gestrickt, aber schwer zu erhalten.“ Selbst in Freistunden und Ferien schaute er vorbei, trat in den Verein der Nahverkehrsfreunde ein und absolvierte die Schaffnerschulung. Seither übernimmt er regelmäßig Dienste.
Als es auf das Abitur zuging, schlug er den alten Hasen vor, eine Ausbildung zu machen statt zu studieren – obwohl die Straßenbahner damals noch gar kein Ausbildungsbetrieb waren. Einige Gespräche später war klar: Sie machen es. „Wir werden älter und wissen: wir müssen rechtzeitig ausbilden“, sagt Plehn. „Sonst fehlt uns bald der Nachwuchs.“
Er und seine Mitstreiter waren zur Wendezeit selbst noch Jugendliche. 1990 riefen sie über das Neue Forum eine Initiativgruppe ins Leben, sammelten Unterschriften, schrieben Rundbriefe. 1991 gründeten sie den gemeinnützigen Verein Nahverkehrsfreunde Naumburg-Jena und 1994 die Naumburger Straßenbahn GmbH. „Ich wollte schon als Zehnjähriger Chef der Straßenbahn werden“, erzählt Plehn. Gleich 1994 begannen sie die ersten sporadischen Fahrten auf gut 250 Metern. Seitdem eroberten sie die ehemalige Ringstrecke Stück für Stück zurück, legten Gleise und Fahrleitungsanlagen wieder frei. Einmal rissen sie sogar ein Stück Straße auf, um ihrem Herzensziel zu folgen. Auch die Stadt Naumburg setzte ab 1999 einige Streckenabschnitte wieder instand. Nur ein Traum bleibt: Den historischen Gleisring würden sie gern wieder komplett schließen, wenn es dafür Geld gäbe.
Abfahrtszeiten via INSA
Fahrplan und aktuelle Abfahrtszeiten der Naumburger Straßenbahn sind über die Fahrplanauskunft für den Nahverkehr in Sachsen-Anhalt, INSA, zu finden. Über die INSA-App und die Webseite www.insa.de lassen sich die Reisemöglichkeiten schnell ermitteln. Eine telefonische Verbindungsauskunft gibt es unter der Servicenummer: 0391 / 5363180.
Die INSA-App gibt es für Android und iOS.
Ein Traum bleibt: Historischen Gleisring komplett schließen
Er und seine Mitstreiter waren zur Wendezeit selbst noch Jugendliche. 1990 riefen sie über das Neue Forum eine Initiativgruppe ins Leben, sammelten Unterschriften, schrieben Rundbriefe. 1991 gründeten sie den gemeinnützigen Verein Nahverkehrsfreunde Naumburg-Jena und 1994 die Naumburger Straßenbahn GmbH. „Ich wollte schon als Zehnjähriger Chef der Straßenbahn werden“, erzählt Plehn. Gleich 1994 begannen sie die ersten sporadischen Fahrten auf gut 250 Metern. Seitdem eroberten sie die ehemalige Ringstrecke Stück für Stück zurück, legten Gleise und Fahrleitungsanlagen wieder frei. Einmal rissen sie sogar ein Stück Straße auf, um ihrem Herzensziel zu folgen. Auch die Stadt Naumburg setzte ab 1999 einige Streckenabschnitte wieder instand. Nur ein Traum bleibt: Den historischen Gleisring würden sie gern wieder komplett schließen, wenn es dafür Geld gäbe.
Um die Bahn am Laufen zu halten, erhält die „Ille“ Fördergelder vom Land durch die Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt GmbH (NASA) und eine Pauschale der Stadt Naumburg für Wartung und Instandhaltung der Infrastruktur sowie einen Betriebskostenzuschuss. Auch Spenden von Unternehmen, Privatleuten und Sammlern helfen. Parallel wird mit dem Burgenlandkreis über weitere Zuschüsse verhandelt, um die Finanzierungslücken zu schließen. Denn durch das Deutschlandticket, das auch in der „Wilden Zicke“ gilt, sind die Einnahmen zurückgegangen. „Ohne weitere Förderung ist unsere Existenz langfristig gefährdet“, sagt der Geschäftsführer. „Wir können nicht ewig so weitermachen.“
Jonathan Babel ist dabei aus seiner Sicht eine Idealbesetzung für die Zukunft. „Er beobachtet sehr genau, stellt viele Fragen und ist mit Leib und Seele dabei.“ Auch einen oder eine Azubi für Elektrotechnik wollen sie künftig noch einstellen. „Aber er oder sie muss es auch mit Liebe und Einfühlungsvermögen wollen“, sagt Plehn.
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